Als Amazon im Jahr 1997 an die Börse ging, kündigte Jeff Bezos, der Gründer des Unternehmens, an, dass Amazon noch ganz am Anfang stehe – „this is day 1 […] for Amazon“. Der damalige Shareholder Letter wird seither jedem Geschäftsbericht des Unternehmens beigefügt. Den im Jahr 2021 veröffentlichten letztmals von ihm als CEO geschriebenen Shareholder Letter beendete er mit den Worten: „It remains Day 1.“ Warum hat diese Aussage eine so zentrale Bedeutung für Bezos? Sein Letter aus dem Jahr 2016 gibt Aufschluss darüber, was auf „Tag 1“ folgt:
“Day 2 is stasis. Followed by irrelevance. Followed by excruciating, painful decline. Followed by death. And that is why it is always Day 1.”
Übersetzt: „Tag 2 ist Stagnation. Gefolgt von Bedeutungslosigkeit. Gefolgt von einem quälenden, schmerzvollen Niedergang. Gefolgt vom Tod. Und deshalb ist es immer Tag 1.“
Was „Tag 2“ bedeutet, belegt auch die Wissenschaft
Zahlreiche empirische Ausarbeitungen beschreiben den Lebenszyklus von Unternehmen: Kapitalrenditen und Wachstumsraten von Unternehmen nähern sich über die Zeit dem Durchschnitt an. Es ist schwierig, über (sehr) lange Zeit überdurchschnittlich zu sein:
Früher oder später führen die steigende Komplexität großer Organisationen und der Wettbewerbsdruck dazu, dass sich Kapitalrenditen normalisieren. Über die Zeit wird Bürokratie geschaffen, welche die Organisation lähmt, und die so entstehende Trägheit zerstört die Aussicht auf rentables Wachstum. Dies ist jedoch keinesfalls ein Prozess, dem Unternehmen ausgeliefert sind und den sie nicht beeinflussen und verlangsamen können. Herausragende Unternehmen versuchen „Tag 1“ zu erhalten. Bestimmte Organisationsstrukturen, Anreizsysteme und Unternehmenskulturen wirken darauf hin, die erwähnten Effekten abzuwenden – hier kommen die Gallier ins Spiel:
Gallische Dörfer, auch „Dorf der Unbeugsamen“, sind aus den in der Römerzeit spielenden Asterix und Obelix Comics bekannt. Die Comics thematisieren das Leben in einem gallischen Dorf, das vollständig von den Römern umschlossen ist, deren (verrückten und) unbeugsamen Bewohnern es aber auf scheinbar wundersame Weise gelingt, sich dem Druck der eigentlich überlegenen Römer zu widersetzen. Um sich dem langfristig Unausweichlichen im Unternehmertum zu widersetzen, muss man auch etwas verrückt und unorthodox sein.
Wie wird man Gallier oder wie entstehen außergewöhnliche Resultate?
Chris Zook, Autor des Buchs The Founder’s Mentality: How to Overcome the Predictable Crises of Growth, beschäftigt sich genau mit dieser Frage. Die Kultur, die der Gründer eines Unternehmens erschafft und hinterlässt, ist der bedeutendste Faktor, so Zook. Unternehmen, deren Gründer immer noch CEO ist, sind deutlich innovativer, was sich beispielsweise in 31 % mehr Patentanmeldungen als bei vergleichbaren Unternehmen bemerkbar macht. Gründergeführte Unternehmen sind daneben auch anpassungsfähiger (oder -williger) und eher bereit, unternehmerische Risiken einzugehen, um bedeutende Investitionen zu stemmen, die für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit erforderlich sind. Dabei muss der Gründer nicht unbedingt noch immer im Chef-Sessel sitzen. Laut Zook gibt es drei Faktoren, die das Unausweichliche hinausgezögert und die Gründermentalität bewahren.
1. Mission („special purpose“):
- Glaubhafte Mission mit hohem Identifikationscharakter
- Mitarbeiter sehen eine höhere Bedeutung in ihrer Arbeit
- Resultat: Hohe Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen
Unternehmen wie Amazon und Tucows stehen in besonderem Maße für Kundenzufriedenheit. Beide weisen Spitzenwerte beim Net-Promoter-Score (NPS) auf – ein Maß für die Wahrscheinlichkeit von Weiterempfehlungen. Ting, der Mobilfunkdienst von Tucows, wirbt mit dem nachfolgenden Video für den außergewöhnlichen Kundenservice des Unternehmens:
Eine Mission stellt in der Theorie einen „higher purpose“ für die Mitarbeiter des Unternehmens dar, welcher – weit über die Anreizeffekte der monetären Vergütung hinaus – einen motivierenden Effekt ausmacht. Heutzutage geben sich die meisten größeren Unternehmen eine Mission – in den seltensten Fällen ist diese jedoch wirklich in der Unternehmenskultur verankert. Effektiv lässt sich eine Mission aus unserer Sicht nur umsetzen, wenn Unternehmen wesentliche ESG-Elemente berücksichtigen, um so die Grundlage für die Glaubwürdigkeit der Mission zu schaffen.
2. Prozessorientierung („front line obsession“):
- Anhaltender Wille zur Verbesserung von Produktions- und Verkaufsprozessen um Kundennutzen zu steigern
- Mitarbeiter nahe am Kunden mit umfangreicher Entscheidungskompetenz, Liebe zum Detail
- Resultat: Eindämmung von Bürokratie, Agilität, nachhaltig hohe Innovationskraft
Im Jahr 2001 verlegte Boeing seinen Unternehmenssitz von Seattle, dem Ort der Hauptproduktionsstätte, in ein Hochhaus im Zentrum von Chicago. In den Jahren 2018 und 2019 stürzten zwei Flugzeuge des neuen Typs Boeing 737 Max ab. Nicht wenige Experten sehen in der räumlichen Separierung des Unternehmenssitzes von der Produktion im Jahr 2001 den eigentlichen Ursprung der beiden Abstürze, welche auf Fehler in der Planung und Entwicklung des Flugzeugtyps zurückzuführen sind. Den Ausführungen von Zook zufolge ist die Entfernung zwischen dem Management und dem Kunden (oder der Produktion) ein Maß für den Umfang und die Gefahr von Bürokratie. Entfernung lässt sich dabei sowohl räumlich als auch in Form von Hierarchieebenen auslegen: In beiden Fällen wird der Informationsfluss durch große Entfernungen aufgehalten. Entscheidungsprozesse verlieren an Geschwindigkeit und Qualität. In der Folge findet eine Entfremdung des Managements von der eigenen Organisation statt; Innovationskraft und Kundenorientierung leiden. Die Unternehmenskultur kann in der Regel nicht auf der obersten Etage eines Wolkenkratzers vorgelebt werden. Darum ist die Nähe des Managements zur „front line“ entscheidend für den langfristigen Erfolg von Unternehmen. Anders als bei Boeing sitzt das Management des Herstellers von Komponenten für Flugzeugtriebwerke MTU Aero Engines dort, wo die „action“ ist: nur Meter von der Produktion im Gewerbegebiet von München-Allach. Davon konnten wir uns schon mehrfach vor Ort ein Bild machen und sind an dem Unternehmen seit vielen Jahren beteiligt.
3. Eigentümermentalität („owner‘s mindset“):
- Kultur von Unternehmertum im Unternehmen
- Dezentrale Organisationsstruktur, flache Hierarchien, hohes Maß an Vertrauen in Mitarbeiter
- Resultat: Hohe Identifikation der Mitarbeiter mit ihrer Arbeit, Eindämmung von Bürokratie, hohe Agilität und Innovationskraft
Im ersten Moment könnte man meinen, dass eine Eigentümermentalität in großen Organisationen und nach dem Abtreten des Gründers schwer zu erhalten ist. Tatsächlich hat die Eigentümermentalität eher mit der Organisationsstruktur als mit den tatsächlichen Besitzverhältnissen eines Unternehmens zu tun. Beim Zementhersteller Holcim baute der neue CEO Jan Jenisch seit 2016 beispielsweise die Bürokratie messbar ab: Die Anzahl der Mitarbeiter in der Zentrale wurde von 350 auf 125 reduziert und es wurde eine ganze Hierarchieebene eliminiert. Daneben wurde mehr Eigentümermentalität geschaffen, indem man die Anzahl der Geschäftseinheiten mit eigener Gewinn- und Verlustrechnung zwischen 2016 und 2020 von 100 auf über 500 erhöhte – Jenisch schuf in vier Jahren quasi 400 neue, kleine Unternehmen und Unternehmer innerhalb von Holcim. Die Organisation wurde deutlich innovativer, agiler und kundenfokussierter. Entscheidungen wurden fortan von den Mitarbeitern vor Ort und nahe am Kunden, anstatt von der Zentrale getroffen. Besonders im Vergleich zu den anderen großen Zementherstellern sticht Holcim seitdem als Unternehmen mit einem hohen Maß an Eigentümermentalität hervor. Es wird auch deutlich: Manche Aspekte der „founder‘s mentality“ – wie Zook diese unternehmerische Kultur in seinem Buch bezeichnet – können eingeführt oder wiederbelebt werden.
Die Zutaten für den Zaubertrank, der (Obelix und) gallischen Dörfern hilft, das Unausweichliche hinauszuzögern, sindkeinesfalls weiche Faktoren. Es handelt sich um messbare Eigenschaften, die den Erfolg eines Unternehmens nachhaltig beeinflussen – und wir finden viele dieser Eigenschaften bei unseren Portfoliounternehmen.
Nicht nur die Römer, sondern auch kurzfristig orientierte Aktionäre belagern die gallischen Dörfer
Dabei kann auch die Börsennotiz eine negative Rolle spielen: Unternehmen beginnen, Entscheidungen zunehmend an den in der Regel kurzfristigen Erwartungen vieler Aktionäre auszurichten und verlieren dabei unausweichlich den langfristigen Fokus. Das Management orientiert sich zunehmend am Aktionär statt dem Kunden zuzuhören – ein großes und immer noch unterschätztes Problem. Schon in Dialogen rund um die Veröffentlichung von Quartalsberichten bezieht sich ein Großteil der gestellten Fragen auf die nächste Berichtssaison und andere Nebensächlichkeiten. Langfristige Aspekte werden weniger herausgearbeitet. Eben hier kann der Gründer, eine langfristig orientierte Familie oder ein einflussreicher Großaktionär in der Aktionärsstruktur Abhilfe schaffen und dazu beitragen, den kurzfristigen Druck von außen zu mindern und den langfristigen Fokus zu bewahren. Roche ist ein gutes Beispiel: Obwohl eines der größten und ältesten Pharmaunternehmen, gelingt es Roche, durch eine dezentrale Organisation innovativer zu sein als die Wettbewerber. So operiert Roche – sehr ungewöhnlich für die Industrie – mit vier unabhängigen Forschungs- und Entwicklungseinheiten, die untereinander in Konkurrenz stehen; die Entscheidungshoheit wird so tief wie möglich in die Organisation abgegeben. Für diese Duplikation und scheinbare Kostenineffizienz wird das Unternehmen regelmäßig von kurzfristig orientierten Marktteilnehmern kritisiert, aber „Unternehmertum im Unternehmen“ zahlt sich aus: Roche kommt auf die höchste Anzahl neuer, innovativer Medikamente in der Branche.
Die Familie als Hüter der „founder‘s mentality“ (oder der Schutzwall vor den Römern)
Als einziges der großen Pharmaunternehmen verfügt die Gründerfamilie von Roche weiterhin über die Mehrheit der Stimmrechte. Dies erlaubt, langfristig und unternehmerisch in Forschung und Entwicklung zu investieren – ein enormer Vorteil in einer Branche, in der jahrzehntelange Produktentwicklungszyklen keine Seltenheit sind und das Erfüllen von Quartalserwartungen daher oft langfristigem Erfolg entgegensteht. Obwohl Roche bereits vor 125 Jahren gegründet wurde, kann die Familie in der Aktionärsstruktur auch heute noch helfen, die „founder‘s mentality“ zu erhalten.
Es gibt sie, die gallischen Dörfer
Unternehmer wie Warren Buffett und Jeff Bezos haben sich größte Mühe gegeben, diese unternehmerische Kultur auch nach ihrem Ausscheiden zu erhalten. Es sind nicht das Alter oder die Größe eines Unternehmens, sondern greifbare Merkmale der Organisationsstruktur und Kultur, die Unternehmen nachhaltig überdurchschnittlich erfolgreich machen – so kann es gelingen, Tag 1 zu erhalten und die Römer vor den Toren dieser gallischen Dörfer abzuwehren. Wir suchen in unserem Investitionsprozess bewusst Unternehmen mit diesen Qualitäten.